Von #ausnahmslos lernen

Als Feministinnen, die bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Politik machen, möchten wir den Weltfrauentag zum Anlass nehmen, um uns in der aktuellen Diskussion “nach Silvester” zu Wort zu melden.

Wir sehen uns Grüne in Verantwortung, gegen die rassistische Instrumentalisierung der Debatte laut zu werden und für die richtigen politischen Konsequenzen zu streiten, die über Lippenbekenntnisse hinausgehen. Die langjährige frauenpolitische und feministische Arbeit unserer Partei hat dazu geführt, dass wir Glaubwürdigkeit und die richtigen Konzepte für ein angstfreies gemeinschaftliches Leben haben, aber darauf dürfen wir uns nicht ausruhen.

Von #aufschrei bis #ausnahmslos

Unsere Gesellschaft hat es über viele Jahre versäumt, angemessen über Gewalt, vor allem über geschlechtsspezifische Gewalt zu reden. Bereits die #Aufschrei-Debatte hat gezeigt, dass wir eine intensive Auseinandersetzung über die Ursachen von sexualisierter Gewalt, über Sexismus, Geschlechterrollen und insbesondere über Männerbilder brauchen. Bereits damals haben sich große Teile der Gesellschaft dieser Diskussion verweigert, Frauen sollten sich nicht so anstellen, man wird ja noch mal ein Kompliment machen dürfen, vom “Tugendfuror” war die Rede. Heute, drei Jahre nach #Aufschrei, sind wir kaum ein Stück weiter gekommen. Es fehlt immer noch das Bewusstsein, wo die Grenze zwischen Sexismus und respektvollem Verhalten verläuft. Und diese Grenze ist individuell, sie liegt dort, wo eine Frau nicht mehr einverstanden ist mit dem Verhalten ihres Gegenübers.

Wir müssen anerkennen, dass es eine historisch gewachsene, konstruierte Hierarchie der Geschlechter gibt und durch sexualisierte Gewalt Macht und Dominanz ausgeübt werden. Unsere Gesellschaft hat sich bisher gescheut, über die Ursachen von Gewalt zu reden, weil diese Debatte unsere Gesellschaft fundamental aufrütteln würde. Über Geschlechterrollen, Dominanz und das eigene Verhalten zu reflektieren, verlangt uns allen etwas ab. Wir wissen: Geschlechtsspezifische Gewalt kommt in allen sozialen Schichten vor, jede siebte Frau ist oder war schon einmal von strafrechtlich relevanter sexualisierter Gewalt betroffen. Diese Zahl führt uns vor Augen, dass wir theoretisch in unserem Freundinnenkreis abzählen können: Statistisch gesehen müssen wir Betroffene von Gewalt kennen. Die wenigsten Frauen reden über sexualisierte Gewalt, weil sie Scham und Angst empfinden und Schuldzuweisungen befürchten. Zu groß ist die Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird und sie als Lügnerinnen bezichtigt werden.

Sexismus und Rassismus strukturell bekämpfen

Unsere Gesellschaft ist neben dem Sexismus ebenso rassistisch geprägt. Und nicht selten treffen beide Phänomene zusammen. So zum Beispiel in der Debatte nach den Übergriffen in der Silvesternacht. Politiker*innen, die noch in der Debatte um #aufschrei im Januar 2013 keinen Grund sahen, Sexismus und sexualisierte Gewalt auf die Tagesordnung zu setzen, sind nun ganz vorne mit dabei, um sich als Beschützer*innen „deutscher“ Frauen hervorzutun. In dieser Situation war der intersektionale feministische Aufruf #ausnahmslos ein Lichtblick. Wir begrüßen #ausnahmslos, den viele von uns unterzeichnet haben, da er die beiden Debatten voneinander trennt und fundierte Handlungsempfehlungen beinhaltet.

Nach Silvester hätte die deutsche Gesellschaft über sexualisierte Gewalt reden müssen, stattdessen wurde aber über Asylrechtsverschärfungen diskutiert. Es wurde und wird gefordert, die vermeintlichen Herkunftsländer der Tatverdächtigen, Tunesien, Marokko und Algerien zu sicheren Herkunftsländern zu erklären. Der “übergriffige nordafrikanische Mann” wurde zum stereotypen Täterbild. Diesen Diskurs weiter mit zu befeuern ist unverantwortlich, nicht zuletzt angesichts der massiv angestiegen rassistischen Gewalt des letzten Jahres.

Smash Patriarchy!

Die Grundlage sexualisierter Gewalt ist eine männlich dominierte Gesellschaft. Die wichtigste Konsequenz aus den Übergriffen der Silvesternacht ist daher die Reflektion und das Aufbrechen der Geschlechterverhältnisse in unserer Gesellschaft. Dazu müssen feministische Perspektiven in alle Politikfelder einfließen. Der Kampf für Frauenrechte muss ein alltägliches Thema sein. Er kann nicht allein auf Frauengremien und Frauenbeauftragte ausgelagert werden. Es ist gut, dass es nach den Übergriffen in Köln eine Debatte um sexualisierte Gewalt gab. Umso erschreckender ist es, dass sie nach kurzer Zeit wieder verschwindet und sich an den Strukturen nichts verändert. Wir brauchen einen feministischen Blick in allen Politikfeldern und Entscheidungsprozessen, denn Frauenpolitik ist nicht nur ein fachpolitisches, sondern auch ein Querschnittsthema.

Ob Lohnungleichheit oder Altersarmut: Die fehlende Gleichberechtigung der Geschlechter ist im Alltag immer und überall präsent. Belange von Frauen müssen so lang und so intensiv in Gesellschaft und Politik hineingetragen werden bis die Berücksichtigung von Interessen und Bedürfnissen von Frauen im politischen Alltag selbstverständlich geworden ist. Frauenpolitik ist auch Wirtschaftspolitik, sie ist Innenpolitik, Finanzpolitik und natürlich Sozialpolitik.

Aber Feminismus bedeutet viel mehr als Frauen in den Blick zu nehmen. Es geht um eine gesellschaftliche Umverteilung von Macht und Zuweisung von Dominanz. Feminist*innen stellen diese tradierten patriarchalen Formen der gesellschaftlichen Organisation in Frage, bringen sie ins Wanken. Davon profitieren alle, die nicht privilegiert sind oder sich nicht einfach auf ihren Privilegien ausruhen wollen, sondern in einer selbstbestimmten und freien Gesellschaft leben wollen.

Nein heißt Nein!

Was die strafrechtliche Belangung von sexualisierter Gewalt in Deutschland angeht, müssen die rechtlichen Schutzlücken im Sexualstrafrecht endlich vollumfassend geschlossen werden. Unter dem Slogan “Nein heißt Nein” drängen Frauenverbände, Jurist*innen und auch wir GRÜNE schon lange darauf. Momentan wird die sexuelle Selbstbestimmung rechtlich nicht voraussetzungslos geschützt – im Gegenteil: Es gibt hohe Hürden, so dass es in der Praxis kaum zu Verurteilungen kommt.

Dabei geht es immer um das Verhalten des Opfers und nicht um das des Täters. Das wollen wir ändern: Es muss endlich für eine Strafverfolgung und Verurteilung ausreichen, dass eine sexuelle Handlung nicht einvernehmlich war. Aus feministischer Sicht ist für uns der Wert der Selbstbestimmung zentral. Wir treten daher für eine zeitgemäße Reform des Sexualstrafrechts ein. Wichtig ist, dass nicht immer weitere Tatbestände hinzukommen, sondern dass die sexuelle Selbstbestimmung an sich geschützt wird. Diese Reform ist längst überfällig. Wir begrüßen daher die Bundesratsinitiative, die die GRÜNEN in Hamburg auf den Weg gebracht haben und appellieren insbesondere an die GRÜNEN in Regierungsverantwortung, der Initiative im Bundesrat zuzustimmen.

Feminismus intersektional denken

Als Feministinnen denken wir nicht erst seit gestern über die Verquickungen von Sexismus und Rassismus nach. Intersektionalität – also das Betrachten unterschiedlicher Diskriminierungsformen und ihr Zusammenwirken – beschäftigt uns schon lange. In erster Linie geht es uns immer um die Selbstbestimmung von Frauen als Grundlage für tatsächliche Gleichberechtigung. Da machen wir keinen Unterschied, woher die Frau kommt, ob sie behindert ist, ein Kopftuch trägt oder lesbisch ist. Wir wissen aber, dass diese Frauen mehrfach von Diskriminierungen betroffen sind und deswegen gilt ihnen unsere Solidarität im besonderen Maße.

Nach den Ereignissen der Silvesternacht wurde fast ausschließlich über die Herkunft der Täter spekuliert und teilweise ausschließlich “die Kultur” in ihren (sehr unterschiedlichen) Herkunftsländern für die sexuellen Übergriffe verantwortlich gemacht. Das finden wir falsch. Denn es reduziert sexualisierte Gewalt auf “die Anderen”, befördert rassistische Stereotype und Ausgrenzung. Uns GRÜNEN wurde danach vorgeworfen, wir würden die Herkunft der Täter verschweigen oder wir hätten Probleme damit, über Sexismus in den Herkunftsländern zu sprechen.

Als Feministinnen und Antirassistinnen wollen wir diese Debatte gerne führen, aber wir wollen sie differenziert führen. Was nicht geht, ist “die Anderen” als patriarchal geprägt zu beschreiben und zu den (vielerorts ebenfalls patriarchalischen) Zuständen in der bio-deutschen Gesellschaft zu schweigen. Produktiv ist vielmehr eine differenzierte Auseinandersetzung mit Männlichkeitsbildern in unterschiedlichen Ländern. Wir wollen nicht bestreiten, dass in einem Land wie Marokko, in dem Frauen deutlich weniger Rechte haben als in Deutschland, ein patriarchalischeres Geschlechterbild vorherrscht als in vielen Teilen der bio-deutschen Gesellschaft. An einer Veränderung dieser Verhältnisse müssen wir aktiv arbeiten. Aber sie können uns nicht dazu führen, pauschale Vorverurteilungen sämtlicher Männer bestimmter Kulturkreise zu treffen.

Lasst uns aktiv werden!

Damit sich alle mit Geschlechterbildern und Gewaltprävention auseinandersetzen können, brauchen wir Orte der Begegnung und des Austausches. Darum muss an Orten wie Kitas, Schulen oder Integrationskursen Wissen um Geschlechterverhältnisse vermittelt und die Möglichkeit der Reflexion der eigenen Geschlechterrolle gegeben werden. Der Weg zu einer diskriminierungsfreien Gesellschaft kann nur über die Ermutigung zum Aufbrechen von Rollenbildern und -verständnisses bei allen Menschen führen.

Eine pauschale Verurteilung (“Die anderen sind patriachal, wir nicht”) führt ausschließlich dazu, dass sich der weiße deutsche Mann wieder entspannt zurücklehnen kann und schürt rassistische Ressentiments. Eine differenzierte Debatte über unterschiedliche Geschlechterbilder fand nach der Silvesternacht kaum statt. Dabei brauchen wir sie mehr denn je.

Wir wollen mit euch allen zusammen über Feminismus und Gewaltprävention diskutieren, sei es bei Veranstaltungen bei euch vor Ort, in den Debatten in unseren frauenpolitischen Gremien oder auf dem Blog Grün ist Lila. Wir wollen im Dialog mit euch weiterkommen, damit wir gesellschaftlich und auch innerparteilich nicht auf einer Stelle treten.

Autorinnen:

Mareike Engels, MdHB, Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Frauenpolitik & frauenpolitische Sprecherin der GRÜNEN Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft
Linda Heitmann, frauenpolitische Sprecherin von GRÜNE Hamburg
Sandra Hildebrandt, Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Frauenpolitik
Sophie Karow, frauenpolitische Sprecherin von GRÜNE Nordrhein-Westfalen
Katja Meier, MdL, Gleichstellungspolitische Sprecherin der GRÜNEN Fraktion im Sächsischen Landtag
Jessica Messinger, Mitglied im Landesvorstand GRÜNE Baden-Württemberg
Gesine Agena, Mitglied des Bundesvorstands und frauenpolitische Sprecherin von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN